Das Beckergruben-Ballett. Zweiter Akt.

Der Verkehrsversuch in der Beckegrube im Mai 2020 (Foto: Sebastian Krabbe)
Der Verkehrsversuch in der Beckegrube im Mai 2020 (Foto: Sebastian Krabbe)

Was bisher geschah: drei Autos parken am Straßenrand, direkt vor der Cole Street. Parken ist dort nicht erlaubt, das Parkhaus St. Marien verfügt währenddessen über dreihundertfünfundvierzig freie Parkplätze. Ein Bus hält an der Haltestelle vor dem Stadttheater und fährt nach kurzer Zeit weiter. Das geschieht alle paar Minuten - wie auch anders, bei elf verschiedenen Linien und über vierhundertvierzig Bussen, die täglich die Beckergrube passieren.
Ein Radfahrer fährt vorbei und mehrere Autos. Die Fahrgeschwindigkeit der Autos lässt vermuten, dass die Insassen es eilig haben. Oder sie wissen nicht, dass hier nur 30 km/h erlaubt sind. Wahrscheinlich wollen sie auch nur schnell die Altstadtinsel passieren und dabei die Beckergrube als Abkürzung nutzen, wie jedes zweite Auto - so die offiziellen Verkehrszählungen. Die Beckergrube motiviert die Autofahrer zum Schnellfahren, denn die Fahrbahn ist breit, gerade und nach Westen sogar abschüssig. Es ist laut, was auch an dem vorbeikommenden Pulk Motorräder liegt. Der Eingang des REWE ist stark frequentiert, Fußgänger gehen schnellen Schrittes vorüber. Nur die Gäste der Cafés und Restaurants nutzen den Stadtraum der Beckergrube für freiwillige Aktivitäten und zum Verweilen, genauso wie ein paar Jugendliche auf dem Gehweg vor REWE. Doch sie gehen unter, das Gemenge aus ruhendem und fließendem Individualverkehr, Bussen, Geschwindigkeit, Barrieren und Durchfahrt dominiert.

So oder so ähnlich stellte sich bis vor ein paar Wochen das alltägliche Beckergruben-Ballett dar.

Spätestens in den Diskussionen zum Rahmenplan Innenstadt mit Mobilitätskonzept Lübeck:übermorgen (2018-2019) wurde deutlich: Die autogerechte Beckergrube ist überholt - denken wir doch nur kurz an die weltweiten Diskussionen zu qualitätsvollen öffentlichen Räumen für Menschen oder die Klima- und Umweltschutzziele, für die eine Verkehrs- und Mobilitätswende unabdingbar ist. Daher ist es auch wenig überraschend, dass die Neugestaltung des Straßenquerschnitts im Rahmenplan als Stufe 1 - kurzfristig und als Schlüsselprojekt klassifiziert wird.
Ende August 2019 beschließt die Bürgerschaft den Rahmenplan, die Verkehrsberuhigung und einen Verkehrsversuch in der Beckergrube. Im Vorfeld waren sich die politischen Parteien wenig einig. Die einen waren sich unsicher, was mit den Verkehrsströmen tatsächlich passiert, daher soll erst getestet und dann gebaut werden. Andere waren für eine Umgestaltung ohne Testphase. Berichtet wurde auch von der einen Gruppe Anwohner, die dem Versuch positiv entgegenblicken und sich auf die Reduzierung des Verkehrs freut. Selbstverständlich gibt es auch die anderen, die Angst vor der toten Innenstadt haben.

Die Einschätzungen und Meinungen sind nicht weiter verwunderlich, denn von der Erfahrung aus anderen Städten mit ebensolchen Projekten können zwei wesentliche Dinge gelernt werden:
Erstens, wenn es um Veränderungen der Lebensumwelt geht, die die täglichen Routinen der Menschen betreffen, wird zunächst meist gegen das Projekt opponiert.
Zweitens, eine Straße menschenfreundlich zu gestalten, indem der Mensch zum Gehen und Verweilen eingeladen, Angebote und Möglichkeiten geschaffen werden und indem der Autoverkehr nur den absolut notwendigen Raum erhält, funktioniert:

Der Times Square gilt als das Zeichen der Veränderung in New York. Bis 2009 war er in erster Linie Verkehrsknotenpunkt, mit den Yellow Cabs als Statussymbol. Fast 90% der Fläche des Times Square wurden von den Autos eingenommen, 10% des Raumes erhielt der Fußgänger. Die Veränderung erfolgte über Nacht: Der Bereich zwischen Broadway und Herald Square wurde für Autos gesperrt, der Straßenbelag koloriert und einfache Klappstühle aufgestellt. Die umgehende Beleibtheit dieses neuen öffentlichen Raumes führte dazu, dass aus dem Versuch schnell eine permanente Maßnahme wurde.

 

Vorher und nachher: Broadway - Times Square    ©New York City Department of Transportation · CC BY-NC-ND 2.0 · www.flickr.com/photos/nycstreets/9138010840
Vorher und nachher: Broadway - Times Square ©New York City Department of Transportation · CC BY-NC-ND 2.0 · www.flickr.com/photos/nycstreets/9138010840

Anfangs wurde in New York massiv gegen diese Maßnahmen opponiert, doch heute genießen Bewohner und Besucher die gewonnene Urbanität.
Ein älteres, anderes Beispiel, ebenfalls aus den autoaffinen USA, ist der zweistöckige Embarcadero Skyway in San Francisco. Dieser Highway war eine wichtige Verkehrsachse für die Stadt und wurde von täglich rund 70.000 (!) Fahrzeugen genutzt. Bei einem Erdbeben 1989 wurde der Freeway beschädigt. Der damalige Bürgermeister setzte sich gegen großen Widerstand mit der Idee durch, den Embarcadero abreißen zu lassen und durch einen Boulevard zu ersetzen. Hierdurch war die Stadt wieder mit der Küste verbunden. Wiedergewählt wurde er nicht. Aber der Abriss des Freeways gilt heute als derart großer Erfolg, dass der damalige Bürgermeisters Jahre später (2006) für seine Vision geehrt und ihm ein Denkmal gewidmet wurde. Der Embarcadero ist heute ein beliebter, viel genutzter und attraktiver öffentlicher Raum.

 

San Francisco Embarcadero Freeway  1992 und 2003   ©Russell Mondy · CC BY-NC 2.0 · www.flickr.com/photos/v63/228932719
San Francisco Embarcadero Freeway 1992 und 2003 ©Russell Mondy · CC BY-NC 2.0 · www.flickr.com/photos/v63/228932719

Was einige beruhigt, finden andere bedauerlich - aber derart große Sprünge gibt es in der Beckergrube nicht. Die Fahrbahn wird um 4 Meter und die Geschwindigkeit um 10 km/h reduziert. Die Durchfahrt ist nur noch für Anwohner, Busse, Taxis und Lieferanten gestattet, sodass Durchfahrtsverkehr unterbunden wird.

Montagmorgen, 11. Mai 2020: Die Busse und Autos fahren tatsächlich langsamer als sonst - mit knapp 30 km/h - durch die Beckergrube. Der Koberg wird - zum Glück - nur selten als Wendehammer genutzt. Es ist auch wenig intuitiv, hier abzubiegen und um den Koberg herumzufahren, um dann umzukehren. Viel einfacher ist es, die Schilder zu ignorieren und den Regelungen zum Trotz, den Weg durch die Beckergrube zu nehmen. So kommt es, dass an diesem ersten Morgen des Versuchs neben Autos mit Lübecker Kennzeichen, auch solche, die in Segeberg, Ostholstein, Stormarn, Altenkirchen, Nordwestmecklenburg, Hamburg, Neumünster, Ratzeburg und München gemeldet sind, die Beckergrube durchfahren. Handelt es sich hier wirklich zufahrtsberechtigte Anwohner? Sollten nicht Kontrollen eingerichtet werden? Wann, wenn nicht gleich zu Beginn des Versuchs, sodass die Regeln zu Durchfahrt und Geschwindigkeit unmittelbar und nachhaltig eingehalten werden?

Dennoch - mit dem Versuch wird eine zeitgemäße Entwicklung eingeleitet - zurück zur Beckergrube des ersten Akts kann niemand ernsthaft in Erwägung ziehen. Nun gilt es zu justieren und weiterzudenken - Schritt für Schritt. Es gilt die gewonnene Breite und neue Großzügigkeit des Raumes sichtbar zu machen - vielleicht rückt man dazu die Pflanzkübel vor dem Stadttheater an den Rand zur Fahrbahn, sodass ein hindernisfreies Gehen ermöglicht wird? Und wenn wir schon dabei sind, die Bushaltestelle muss sich vielleicht auch nicht direkt vor einem Café mit Außengastronomie befinden.
Aber, der Versuch ist ein Schritt in die richtige Richtung, der gleichzeitig Schwachstellen zeigt, die im weiteren Verlauf oder spätestens zum tatsächlichen Umbau angepasst werden müssen - dazu dient er ja schließlich!

Spannend wird es, wenn weitere Nutzungen wie das Urban Gardening und weitere Möblierung wie konsumfreie Sitzmöbel in die Beckergrube einziehen, die Menschen sich den Raum aneignen und vor allem – dazu dient der Versuch ja primär - wenn deutlich wird, dass ein Verkehrschaos – ob mit oder ohne Corona - auszuschließen ist.

Es heißt, das Ende ist da, wo man Ende schreibt. Ich setze einen Punkt, aber das Ende ist es nicht - der zweite Akt, die Veränderung der Beckergrube hat gerade erst begonnen.

 

Anika Slawski · Mai 2020