Mein Schwiegervater lebt seit vielen Jahren in der Schweiz. Er hält große Stücke auf Land und Leute und wird nicht müde, insbesondere die Schönheit der Landschaft und die Attraktivität der Städte
zu preisen. Zahllose Touren mit dem Rennvelo, seinem Rennrad also, verfestigten diesen Eindruck nachhaltig. Dennoch hat es fast sein ganzes Leben gedauert, ihn „aus dem Auto zu bekommen“.
Zugegeben, Komfort und Noblesse der fahrbaren Untersätze müssen wohl als Teil der Verführung zugestanden werden, ebenso die Tatsache, dass man viele schöne Orte eben auch „gut“ mit dem Auto
erreichen kann, wie man so sagt.
Schon vor einiger Zeit erfolgte dann der Umzug vom Lande in die Stadt, nach Bern, und dort entdeckte er die Straßenbahn, oder wie er sagt: die Tram. Fuhr er auch früher innerstädtisch mit dem
Auto und hob die Berner Parkhäuser für ihre zentrale Lage und Sauberkeit hervor, lobte er zuletzt ebenjene Tram, für ihre Sauberkeit, ihren tollen Takt und das weit verzweigte Netz.
Nachdem Corona auch die Schweiz nicht verschont, muss er, längst Großvater, entsprechend betagt und aller Rüstigkeit zum Trotz, jüngst einsehen, dass er einer Risikogruppe angehört.
So muss er also wieder raus aus der Tram und auch sonst ist nicht viel los:
Besprechungen erledigt man am Telefon, Termine entfallen, die Museen, die Konzerthäuser und Kinos sind geschlossen, Ausflüge mit dem Auto verbieten sich, außerdem hat man die Beizen ja
ohnehin zugesperrt.
Was also anfangen mit der Zeit und wie kommt man zum Supermarkt oder zur Apotheke, wenn man doch mal etwas besorgen muss?
Mein Schwiegervater hat das Spaziergehen entdeckt. Eile ist nicht geboten, man ist an der Luft und füllt den Tag.
Er ruft jetzt beinah täglich an und berichtet begeistert von seinen neusten Entdeckungen:“ Ihr glaubt nicht, wo ich gerade bin, ihr könnt Euch nicht vorstellen, was hier für Häuser stehen, Ihr
habt keine Ahnung, wie schön man da in der Sonnen sitzen kann!“
Was hören wir hier, was wird uns hier beschrieben?
Ein Mensch entdeckt seine Umgebung völlig neu, seine Straße, seine Nachbarschaft, sein Quartier, seine Stadt - zu Fuß! Städtebau und Architektur rücken in seinen Fokus. Zahlreiche Kulturen sind
gelähmt, selbst die „Unkultur“ des Konsums vermag unsere Aufmerksamkeit nicht zu erfassen, statt dessen erleben wir unsere gebaute Umwelt als das, was wir auch in der Krise real erleben und
erfahren können: Bau-kultur!
Baukultur wird „nicht geschlossen“, fällt nicht aus und kann nicht „aus der Retorte“ konsumiert werden, unsere gebaute Umwelt ist das, was uns alle umgibt. Und jetzt, in der Krise, in den
Straßen, auf den Plätzen und vor unseren Häusern, fällt uns vielleicht um so mehr auf, was sie uns bedeutet - oder bedeuten sollte.
Gehen wir alle, wie mein Schwiegervater in der Schweiz, jeden Tag mit offenen Augen los, um die Baukultur zu genießen oder die Probleme unserer gebauten Umwelt zu erkennen, damit wir dann, wenn
das Leben wieder „Fahrt aufnimmt“, wissen, wo wir anpacken müssen!
Norbert Hochgürtel · April 2020