Obwohl - oder vielleicht gerade weil - Lübeck so reich mit außergewöhnlichen und bemerkenswerten Denkmalen gesegnet ist, scheint der Umgang mit ihnen den Lübeckerinnen und Lübeckern nicht immer leicht zu fallen. Die herausragenden Einzeldenkmale sind wohl allen geläufig - auch dass die gesamte Altstadtinsel den Titel UNESCO-Welterbe trägt, ist allseits bekannt. Das Attribut Baudenkmal scheint hierbei im Allgemeinen aber eher mit der mittelalterlichen Stadt verbunden, als mit neuzeitlicheren Bauwerken.
Doch auch die Zeit der Industrialisierung beispielsweise prägte das Bild und den Alltag dieser Stadt - bis heute existieren zahlreiche Bauwerke dieser Epoche, die ganze Stadtteile in ihrer Entwicklung beeinflussten oder regelrecht bestimmten.
Jüngst rückte nun ein Teil der industriellen Geschichte Lübecks in den Fokus der Öffentlichkeit, allerdings in anderer Weise als man sich wünschen könnte. Die Ölmühle in Lübeck Siems, ein 1905 erbauter Speicherbau, soll nach dem Wunsch seines Eigentümers der Hafenentwicklung weichen. Aufgrund des schlechten Zustandes sei eine Sanierung ohnehin schwierig und wirtschaftlich nicht darstellbar.
Der ideelle Wert des Gebäudes ist bereits lange bekannt, denn seit 1994 steht das Gebäude unter Denkmalschutz. Daher drängt sich die Frage auf: Wie konnte sich der Zustand des Gebäudes in den vergangenen Jahrzehnten überhaupt so sehr verschlechtern? Ein Denkmal verpflichtet, heißt es so schön; dieser Verpflichtung scheint sich jedoch nicht jeder Eigentümer bewusst zu sein. Oder fehlt es in der Tat am Willen? Die Denkmalpflege warnt und hat aufgrund des fortschreitenden Verfalls und dem Bestreben zum Abriss die Ölmühle als „akut gefährdet“ eingestuft.
Neben der Ölmühle gibt es einige weitere industrielle Denkmale in Lübeck, die von der Denkmalpflege ebenfalls als akut gefährdet eingestuft werden. So kann man auch den „Tudorhallen“ auf der Roddenkoppel dabei zusehen, wie der Zahn der Zeit an ihnen nagt. Die Schiffsbauhallen mit ihren prägnanten, charakteristischen Fensterbögen und dem vorgelagerten Wasserbauplatz wurden Anfang des 20. Jahrhunderts errichtet. Das Dach ist mittlerweile großflächig eingestürzt, überall sprießen Pioniergewächse aus dem maroden Mauerwerk.
Ein etwas weniger prominentes - und heute vor lauter Bewuchs leider kaum noch sichtbares - Beispiel für Lübecks industrielles Erbe findet sich wieder etwas weiter Trave abwärts am Glashüttenweg: die 1936 errichtete ehemalige Gesenkschmiedehalle. 1935 wurde das Gelände von der Berlin-Lübecker Maschinenfabrik (BLM) übernommen. Gegenüberliegend findet sich der ebenfalls 1936 entstandene und ab dem Jahr 1938 zum F-Bau erweiterte Gebäudekomplex der Gesenkschmiede. Zwischen den beiden Gebäuden stehend, kann man erspüren, welche architektonischen aber auch städtebaulichen Potentiale an diesem Ort liegen.
Auch die Gesenkschmiedehalle ist heute nach langjähriger Vernachlässigung in einem erschütternd desolaten baulichen Zustand. Auch hier, so heißt es, wurden bereits Abbruchanträge gestellt. Der Ausgang für das Gebäude ist ungewiss.
Beim vergleichenden Blick auf all diese Denkmale und ihre jüngere Geschichte, meint man ein Muster zu erkennen: Wenn erst die Bausubstanz durch langjährige Vernachlässigung schlecht genug ist, liegt die Begründung für einen Abriss wie selbstverständlich auf der Hand. Ein weiteres Argument ist stets die angeblich fehlende wirtschaftliche Nutzbarkeit und das eingeschränkte Entwicklungspotential des Ortes. Das Baudenkmal gilt als flächenverzehrender Störfaktor für die Zukunft.
Diese Sichtweise greift jedoch zu kurz, steht doch weit mehr als nur ein Stück beliebige Bausubstanz auf dem Spiel. Denn wenn diese Zeugen ihrer Zeit erst einmal nicht mehr da sind, fehlt den Orten ein wichtiger Teil ihrer Geschichte und somit ihrer Identität. An genau diesen Orten allerdings liegt das Potential für Lübecks zukünftige Entwicklung - teilweise direkt vor den Toren der Altstadt. Das vorhandene industrielle Erbe kann dabei als Impulsgeber zur Quartiersentwicklung beitragen, als Herzstück und Rückgrat dienen und als Landmarke die Möglichkeit schaffen, Orte mit einzigartiger Identifikationskraft entstehen zu lassen. So kann eine selbstverständliche auf vielen Ebenen gewinnbringende Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geschaffen werden.
Eigentum verpflichtet. Und wer Eigentümer eines Denkmals ist, trägt in besonderer Weise eine Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit. Es muss erwartet werden können, dass die Zeugen unserer industriellen Kultur nicht nur erhalten sondern nachhaltig bewahrt werden und dass hierbei ihre jeweiligen Chancen und Potentiale genutzt werden.
Der Denkmalpflege bleibt lediglich zu mahnen und ohnmächtig zuzusehen - fehlt es doch der Politik offenbar am entschlossenen Mut, die durchaus denkbaren letzten Mittel zu beschließen. So gäbe es die Möglichkeit Zwangssicherungen oder gar Enteignungen durchzuführen oder zumindest Vorkaufsrechte auszuüben, um so unabhängig von Investoren umsichtig agieren zu können und die Chancen für eine durchdachte und ganzheitliche Stadtentwicklung zu nutzen.
Dass sich die Bürger Lübecks durchaus für ihr industrielles Erbe interessieren und begeistern, hat der Rundgang „Denkmal Roddenkoppel“ des ArchitekturForumLübeck im Jahr 2019 gezeigt. Über 300 Besucherinnen und Besucher haben die Gelegenheit wahrgenommen, mehr über die Tudorhallen und über die Geschichte ihrer besonderen Umgebung zu erfahren. Das Erlebnis dieses Tages hat gezeigt, wie wichtig und inspirierend es ist, sich diesen Bauwerken zu nähern, um den Geist und die Historie dieser Orte zu erspüren. Es wäre schön, wenn aus diesem Erleben vor Ort ein langfristiges Interesse und eine nachhaltige Identifikation erwachsen könnten. Denn wir alle müssen uns für das kulturelle Erbe dieser Stadt - auch jenseits der Altstadt - einsetzen, sonst ist es schon bald unwiederbringlich verloren.
Inga Mueller-Haagen und Lothar Többen · April 2020